Montag, 30. November 2009

Der Fluss und der Fisch

Es war einmal ein alter Mann. Er liebte die See und alles, das mit ihr zusammenhing. Er war früher ein erfolgreicher Fischer. Nicht einmal der stärkste Sturm konnte ihn davon abbringen, hinaus auf sein geliebtes Meer zu fahren. Die Ozeane waren seine Heimat. Er respektierte sie und ihre grausame Gleichgültigkeit, die wilden Naturgewalten aber auch ihre überwältigende Schönheit. Lasst ihn uns also Nemo nennen, in Anlehnung an Jule Vernes berühmten Kapitän der Nautilus in "20.000 Meilen unter dem Meer". Mit Menschen konnte Nemo meist wenig anfangen, die meisten waren ihm zuwider und er bevorzugte die Stille des Meeres gegenüber lauter Gesellschaft. Deswegen lebte er auch allein auf einer Insel. Allerdings war er auch sehr kinderlieb. Kinder waren die einzigen Wesen mit denen er sich noch verstand. Mit ihrer Neugier aber auch Empathie brachten sie ihm immer wieder zum Lächeln. So trieb es ihn ab und an mit seinem kleinen Schiff ins nächstgelegen Dorf, wo er dann seine aufregenden Geschichten zum Besten gab. Er hatte eine sehr tiefe, brummende und doch angenehme Stimme und jedes Mal gab es ein großes Gerangel auf dem Dorfplatz, da jedes Kind seine Geschichten hören wollte. Und manchmal, ja manchmal fand sich sogar der eine oder andere Erwachsene dort. Einmal kam die Frage auf, was ihn denn so stark mit dem Meer verbinde. Nemos Augen fingen wieder an zu glühen und ein warmes Lächeln breitete sich in seinem Gesicht aus. So erzählte er von seinem ersten großen Fang, der sein Leben verändert hat:

Nemo war damals noch ein junger Seemann. Er war noch relativ unerfahren und seine Liebe zum Meer hatte er noch nicht entdeckt. Dies alles sollte sich jedoch schon bald ändern. Wie jeden Tag fuhr er mit seinem kleinen Boot hinaus auf die See. Das Meer war still, kein Wölkchen zeigte sich und die Sonne schien in ihrer ganzen Pracht an diesem Tag, also wagte sich Nemo diesmal weiter hinaus als je zuvor, in der Hoffnung, einen großen Fang zu machen. Seine Erwartungen erfüllten sich schon sehr bald, wenige Stunden später hatte er etwas am Haken, das keiner Beschreibung nahe kommen kann. Ein Monstrum eines Fisches, groß, stark, ein prächtiges Tier. Ein zäher Kampf entwickelte sich, mal schien es als ob der Fisch entkommen würde, mal so, dass Nemo die Oberhand gewann. Dies zog sich über zwei ganze Tage hin und am Ende waren Mensch wie Fisch am Ende ihrer Kräfte. Nemo nahm nochmal all seine Kraft zusammen und mit einem Ruck war der Fisch plötzlich auf seinem Boot. Nemo, der sein Glück kaum fassen konnte, schaute das schöne Tier an. All der Kampf, all die Qualen wurden mit diesem Anblick und dem Gefühl des Sieges belohnt.

Daraufhin legte der alte Seemann eine dramatische Pause ein.
Die Kinder, die sich kaum noch auf ihren Plätzen halten konnten, fragten daraufhin was denn dann geschehen wäre? Schmunzeld antwortete Nemo daraufhin:


"Wisst ihr Kinder, in diesem Moment
gab es Dinge in meinem Kopf, die man einfach nicht in Worte fassen konnte. Es waren große Gedanken, einzigartige Gedanken, nicht hervorgerufen von mir sondern von dem Anblick dieses prächtigen Tiers. Ich empfand plötzlich Schönheit, überall, alles machte plötzlich einen Sinn, weil alles eins war, weil ich ein Teil dieses Alles war. Ich verspürte Trauer und Glück zur gleichen Zeit und hatte die verrücktesten Gefühlskombinationen. Es war, als hätte man alle nur denkbaren Gefühle und meinen Kopf in ein kleines Schiff gesteckt und das Ganze in einem mörderischen Sturm kräftig durch gewirbelt. Ich war einfach nicht in der Lage, diese Gefühle in Worte zu fassen, ich konnte es nicht und meiner Meinung geht es auch nicht. Wenn ihr mich fragt, kann man Gefühle grundsätzlich nicht beschreiben, da einige so unglaublich stark sind, so "viel", dass man nicht einmal nach mehreren Jahren seine Empfindungen vollständig erklärt hätte. Außerdem kann man sie auch gar nicht erklären, diese Gefühle sind nichts anderes Momente, ein Bilderfluss, ein Fluss der Gefühle. Es ist wie ein Strom bestehend aus Schönheit und Vollkommenheit. Der Mensch schöpft ständig Wasser aus diesem Fluss heraus, mit einem Eimer voll mit Löchern, in dem Versuch etwas Unfassbares zu fassen, anstatt sich einfach von dem Strom treiben zu lassen. Versteht ihr, was ich meine? Manchmal muss man einfach loslassen, sich treiben lassen, anstatt krampfhaft zu versuchen, den Moment festzuhalten. Man muss die Gefühle passieren lassen.
Wer nun aber innehält und versucht, jedes einzelne Gefühl zu analysieren zerstört einfach diesen Moment. Man nehme nur meinen Fisch, er war ein prachtvolles und schönes Tier zugleich, voller Lebensfreude und Energie. Ihn dort liegen zu sehen, hiflos und leidend, es hat mein Herz gebrochen. Hätte ich ihn nun gefangen wäre aus dem einstmals glücklichen Tier einfach ein Schatten seines ehemaligen Seins geworden. Deswegen habe ich ihm auch wieder seine Freiheit geschenkt. Ich ließ ihn passieren.
Und an diesem Tag habe ich erkannt, dass nichts in der Welt mich meinem Glück näher bringen kann, als das Meer. Mit ihm verbinde ich mein ganzes Leben, meine positiven sowie negativen Erfahrungen aber auch diesen einzigartigen Moment. Nur dort kann ich meine Ruhe finden.
Das Treiben der Menschen und ihr krampfhaftes Festhalten macht mich traurig. Werte wie Ehre, Gerechtigkeit und vor allen Dingen Selbstachtung werden heutzutage mit Füßen getreten. Der Mensch ist sich selbst sein größter Feind geworden.
Ich hoffe ihr werdet meinen Rat zu Herzen nehmen und dies ändern.

Und nun lebt wohl meine kleinen Freunde!"

Mit diesen Worten machte er sich wieder auf, lief hinunter zum Steg, löste die Vertäuung und setzte die Segel gen seiner Insel.
Am selben Abend kam ein fürchterlicher Sturm auf, das Meer tobte und der Regen peitschte gegen die einfach gebauten Häuser.
Nemo kam nie wieder.


Q

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